Cover
Titel
Die Bibel als Norm?. Das Ringen um das Recht der Kirche in Streitschriften aus der Zeit des Investiturstreits, ca. 1050–1140


Autor(en)
Spahn, Philipp N.
Reihe
Recht im ersten Jahrtausend
Erschienen
Frankfurt 2022: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
X, 416 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Eßer, Lehrstuhl für Mittlere Geschichte, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Der Investiturstreit gilt als Zeit der Un- und Neuordnung; Philipp Spahn erkennt darin eine Konstante: die Bibel. In seiner Dissertation setzt er sich mit der Bibel als kirchlicher Rechtsquelle sowie ihrer Nutzung durch die Streitschriftenautoren des Investiturstreits auseinander und schließt damit eine Forschungslücke. Denn bisher haben Studien des mittelalterlichen Rechts die Bibel zumeist als rein theologisches Schriftgut klassifiziert und folglich wenig beachtet. Spahn verfolgt dabei zwei Ziele: Indem er, erstens, das methodische Vorgehen in den Streitschriften untersucht, soll die Bedeutung der Bibel für den rechtsgeschichtlichen Wandel zwischen 1050 und 1140 beleuchtet werden. Zweitens sollen anhand der Argumentation der Streitschriftenautoren die „biblischen Fundamente [der] Rechtsstellung“ (S.9) der Universalgewalten vermessen werden.

Nach der Einleitung (S.1–13), in der es dem Autor gelingt, die Masse der Beiträge zum Investiturstreit und den mit ihm verbundenen Wandlungsprozessen übersichtlich zu präsentieren, gliedert sich die Studie entsprechend der Fragestellung in zwei Abschnitte: Der erste Teil bietet einen methodengeschichtlichen Überblick, in dem der Stellenwert der Bibel für das zeitgenössische Kirchenrecht evaluiert und die Arbeitsmethoden der Streitschriftenautoren im Umgang mit der Heiligen Schrift beleuchtet werden (S.15–132). Der zweite, ideengeschichtliche Teil untersucht die „biblischen Grundlagen“ des Streits zwischen den Universalgewalten (S.133–275).

Der erste Abschnitt beginnt mit der Vorstellung der Bibel als Rechtsquelle (S.15–67). Spahn arbeitet heraus, dass Passagen der Bibel von den Zeitgenossen als Rechtstexte wahrgenommen worden seien, entweder aufgrund inhaltlicher Merkmale oder durch ihre Rezeption in kirchenrechtlichen Sammlungen. Die Bibel selbst sei zwar nicht immer materieller Ursprung des Kirchenrechts, verstanden als Zeugnis des ius divinum sei sie aber stets inhaltlicher Maßstab gewesen, dem kirchliche Rechtssätze keinesfalls hätten widersprechen dürfen. Sodann wird der zeitgenössische Umgang mit dem Bibeltext betrachtet: Keinesfalls sei den Streitschriftenautoren der Zugriff auf eine sprachlich und inhaltlich uniforme Bibelfassung möglich gewesen. Durch den vermittelten Kontakt in patristischen, kirchenrechtlichen und liturgischen Texten könne dennoch von einem Grundstock allgemein bekannter Textstellen ausgegangen werden. Die Auslegungspraxis habe sich besonders an der allegorischen Deutung orientiert, sei aber auch durch die (früh-)scholastische Methode beeinflusst worden. Schließlich erhebt Spahn den Stellenwert der Bibel in der kirchenrechtlichen Autoritätenhierarchie, in der sie seit der Patristik bis zur Rechtssammlung Gratians nicht an Bedeutung eingebüßt habe; sie sei „erste und oberste Norm im Gefüge der Autoritäten und Rechtstexte“ (S.43) geblieben.

Im folgenden Kapitel (S.69–116) widmet sich der Autor zunächst der nicht leicht zu beantwortenden Frage, was unter dem Gattungsbegriff „Streitschrift“ zu verstehen ist. Geschickt kann Spahn einige der (in der Forschung kontrovers diskutierten) Merkmale – wie die Verbreitung der Texte oder ihre formale wie inhaltliche Heterogenität – ausklammern, indem er zunächst fragt: „Was ist eine Streitschrift nicht?“ (S.69). Er definiert die Streitschrift als Gattung, die Stellung zu einem Streitpunkt des Investiturstreits nehme und sich zudem „mit überlieferten, als autoritativ erkannten Texten einerseits sowie mit zeitgenössischen Interpretationen dieser Texte andererseits“ auseinandersetze (S.93). Da die Streitschrift so zum Medium der Interpretation von und Kommunikation über das Kirchenrecht werde, sei sie zur „frühen kirchlichen Rechtsliteratur“ zu zählen (S.77). Endgültig lösen kann (und muss) dieser Definitionsvorschlag das Gattungsproblem nicht, dennoch wird damit eine bisher weniger beachtete Facette der Texte hervorgehoben. In parteiischen – d.h. pro- und antipäpstlichen – „Textarbeits- und Textbearbeitungsgemeinschaften“ (S.93) seien die Argumente der eigenen Partei auf Grundlage der Bibeltexte ausformuliert worden. Diese seien in überparteilichen Gemeinschaften von den Streitschriftenautoren aufgegriffen und verhandelt worden. Im letzten Kapitel des Abschnitts stellt Spahn die verschiedenen „Arbeitstechniken“ der Streitschriftenautoren im Umgang mit den Bibeltexten vor (S.117–132). Im ersten Teil kann der Autor so das „produktive Potenzial“ (S.93) der Streitschriften und des mit ihnen geführten Disputs ergründen, in denen die „Professionalisierung im Umgang mit autoritativen Texten“ (S.92) zu beobachten sei.

Zu Beginn des zweiten Abschnitts will die Studie „die biblischen Grundlagen der Stellung und des Verhältnisses“ der Universaltgewalten ergründen (S.133–169). Den Anfang macht ein Überblick über die geistesgeschichtlichen Entwicklungsetappen des Gewaltendualismus. Im Fokus stehen daraufhin drei Stellen des Neuen Testaments (Mt 22,21, 1 Petr 2,17 und Röm 13,1–7), die vorwiegend den antipäpstlichen Streitschriftenautoren dazu gedient hätten, die funktionale Trennung bei gleichberechtigter Teilhabe an der Kirchenleitung zu begründen. Die propäpstliche Fraktion indes habe sich zuallererst auf die gelasianische Dekretale bezogen und diese genutzt, um das hierokratische Papsttum zu legitimieren. Basierend auf der Auslegung von Lk 22,38 seien im Investiturstreit verschiedenartige „Zweischwertertheorien“ (S.169) als drittes eigenständiges Deutungsschema neben diese beiden Rechtfertigungsmodelle getreten.

Die beiden folgenden Kapitel sind den biblischen Grundlagen der Kirche und des Papsttums gewidmet (S.171–230). Der Kirchenbegriff der Autoren des Investiturstreits, der sich erwartungsgemäß eher in den propäpstlichen Schriften entwickelt habe, die die Kirche „römisch, universal und hierarchisch“ dachten, sei der einer „transpersonalen“, „unzerstörbaren“ Einheit (S.172) und fuße auf zwei biblischen Metaphern: Im Bild der sponsa Christi erkennt Spahn die biblische Begründung der Forderung nach der libertas ecclesiae. Zentral für das zeitgenössische Kirchenverständnis sei aber das paulinische corpus Christi gewesen. Dank dieser Sozialmetapher sei die Konzeption der Kirche als transpersonaler Verband gelungen; mit Mt 16,18 sei der Papst diesem Verband vorangestellt worden. Ausgehend von den Briefen Gregors VII. wird abschließend die zeitgenössisch intensiv diskutierte Frage untersucht, ob Petrus bei der Schlüsselübergabe (Mt 16,19) eine Stellvertreterrolle für alle Apostel zukam. Die propäpstliche Partei habe stets die Vorrangstellung des Apostels und seiner Nachfolger betont, während die antipäpstliche Seite davon ausgegangen sei, dass Petrus nur als Stellvertreter gehandelt habe. Dabei sei die Schlüsselgewalt, die die exklusiv päpstlichen Vollmachten begründe, durch die Autoren beider Lager klar getrennt von der Binde- und Lösegewalt als jurisdiktionelle Kompetenz aller Bischöfe verstanden worden.

In den letzten beiden Kapiteln setzt sich der Autor mit dem „biblische[n] Fundament des weltlichen Herrschaftsverbandes“ sowie der Machtgrundlage des Herrschers auseinander (S.231–275). Das erste Teilkapitel ist der Begründung eines „von der Kirche unabhängige[n] Gemeinwesen[s]“ (S.231) gewidmet. An dieser Aufgabe seien die antipäpstlichen Autoren des Investiturstreits aus zwei Gründen gescheitert: In der Bibel sei der Herrschaftsverband mit überwiegend negativ konnotierten Textstellen verbunden, darunter der Sündenfall (Gen 3,1–24) sowie Kains Gründung einer civitas nach dem Brudermord (Gen 4,17). Trotz einiger Versuche sei es den antipäpstlichen Autoren nicht gelungen, eine positive „biblische Denkfigur“ (S.74) zu identifizieren, mit der der weltliche Herrschaftsverband „nachhaltig begründe[t]“ (S.252) werden konnte. Zudem sei es ihnen auch nicht gelungen, bereits bekannte Deutungsschemata neu zu prägen, da diese bereits effektiv von den propäpstlichen Autoren für die Begründung des hierokratischen Papsttums eingesetzt worden seien. Die Begründung des weltlichen Herrschaftsverbandes sei erst im 12. Jahrhundert, gestützt auf außerbiblische Texte gelungen.

Das letzte Kapitel beleuchtet den Umgang der Streitparteien mit der (rechtlichen) Unantastbarkeit des gesalbten Herrschers. Spahn beschreibt, dass die proköniglichen Autoren die Exkommunikation Heinrichs IV. als Verstoß gegen die biblisch begründete Unantastbarkeit verurteilt hätten, während Gregor VII. und die propäpstlichen Autoren die Exkommunikation als fürsorglichen Akt dargestellt hätten, dessen Ziel der Heilsfortschritt des Herrschers gewesen sei. Im zweiten Teil der Studie gelingt es dem Autor, einige etablierte Ansichten neu zu bewerten: Einerseits kann Spahn mit dem „Motiv der kirchlichen Brautschaft Christi“ (S.284) die biblischen Grundlagen der Forderung nach dem Schutz der Kirche vor weltlichen Einflüssen nachweisen. Die libertas sei nicht Ursprung, sondern Ausdruck dieses Ziels. Darüber hinaus stellt der Verfasser fest, dass die Annahme, die Kirche habe ihre Rechtsansprüche auf Grundlage des Neuen Testaments formuliert, während die weltliche Sphäre vor allem das Alte Testament herangezogen habe, nur teilweise zutreffe. Der Investiturstreit gelte zurecht als Ausgangspunkt der Säkularisierung, die Ursachen seien jedoch nicht in der Entsakralisierung des Königtums, sondern in der Suche der antipäpstlichen Autoren nach einer Legitimationsbasis der weltlichen Herrschaft außerhalb der Bibel zu suchen.

In einem konzisen Fazit werden die Ergebnisse zusammengefasst und kritisch evaluiert (S.277–286). Im Anhang finden sich neben dem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis ein Verzeichnis der Bibelstellen sowie ein Orts-, Personen- und Sachregister.

Insgesamt beweist Philipp Spahn eine sehr fundierte Kenntnis des umfangreichen Quellenmaterials, die sowohl durch die Zahl der betrachteten Texte als auch durch den Detailreichtum seiner Beobachtungen beeindruckt. Weniger kundige Leser:innen mag der vertraute Umgang des Autors mit dem Streitschriften-Korpus zuweilen vor kleinere Herausforderungen stellen. Bietet die Studie doch eine große Zahl von Belegstellen in schneller Abfolge, wobei nur punktuell an die textuelle Einbettung der Passage sowie den Entstehungs- und Rezeptionskontext der Streitschriften erinnert wird. Durch die konzentrierte Textarbeit gelingt es dem Autor jedoch, nicht nur die zentrale rechtsgeschichtliche Bedeutung der Bibel herauszustellen, sondern auch neue Einblicke in die Arbeitsmethoden der Autoren, Argumentationslogik der Texte und intertextuelle Dynamiken zu gewinnen, von denen zukünftige Betrachter:innen des Investiturstreits sicherlich profitieren werden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension